Neulich saß ich im Café, meine Becher mit grünem Tee noch halb voll, und hörte, wie am Nebentisch zwei Frauen ihr Wochenende durchorganisierten – alles war getaktet, von Pilates, über die Abendessen mit Freundinnen, bis zum Museumsbesuch, jede Minute „ausgenutzt“.
Irgendwann merkte ich, dass mein Kiefer sich angespannt hatte. Nicht aus Neid. Sondern aus einem müden Zorn heraus, weil ich mich erinnerte: Früher konnte ich auch nie genug Aktivitäten in meine Tage reinpacken. Zum einen, um die Leere in mir zu füllen, oder sie erst gar nicht fühlen zu müssen. Zum anderen, weil ich dachte: Da muss doch noch mehr gehen …
Heute weiß ich: Dieser Ruf nach „höher, schneller, weiter“ ist überall. In Köpfen, Kalendern, Gesprächen – und vor allem in der Werbung. Auf den ersten Blick klingt „the sky is the limit“ vielleicht verlockend, aber es ist nichts anderes als ein Dauerton, der unsere Nerven strapaziert. Und dazu führt, dass wir uns permanent fragen: Habe ich genug von diesem oder jenem getan? Habe ich genug gesagt, geliebt, gelesen, gehört, ge… was auch immer?
Ganz ehrlich: Mir geht das auf den Geist und es macht mich wütend! Denn es impliziert, dass es nicht auch einfach mal genug sein darf. Dass das, was ich tue, nicht ausreicht. Dass ich mich nicht einfach zurücklehnen und sagen darf: So, Schluss für heute, genug!
Ich habe mich oft gefragt, warum so viele Frauen darauf „anspringen“. Warum sie versuchen, immer mehr, immer schneller, immer besser zu sein. Mittlerweile ist mir klar geworden: Es geht gar nicht um die Leistung an sich – es geht darum, dass wir nie gelernt haben, Schluss zu machen, ohne uns schuldig zu fühlen.
So wie neulich, als ich vor meinem Kleiderschrank stand, eigentlich nur auf der Suche nach einem warmen Pullover. Doch plötzlich blieb ich stehen, nicht wegen des Pullovers, sondern weil mir auffiel, wie häufig ich mich auch heute noch in diese „Bin ich sicher schon fertig?“-Fragen verstricke. Nicht beim Kleiderschrank, klar. Aber dann, wenn es ums eigene Tempo geht, um Grenzen, um Pausen, und vor allem, wenn es um meine Arbeit geht und ich mich frage: Ich könnte jetzt aufhören … aber darf ich das?
Und da traf mich ein Gedanke ziemlich ungnädig: Die Entscheidung, wann „genug“ genug ist, nimmt mir niemand ab. Es gibt keine allgemeingültigen Regeln, keine Vorgaben, keine Norm. Es gibt auch keine Tante Erna, die mir über die Schulter schaut und sagt: „So, Dagmar, jetzt ist aber gut.“
Das klingt vielleicht banal, aber in diesem Moment hat es mich echt erwischt, weil mir bewusst wurde: Ich bin die Einzige, die diesen Schlussstrich ziehen kann. Und, ganz ehrlich, das ist oft schwerer, als noch eine Runde mitzudrehen, noch ein Projekt anzunehmen oder noch eine Verabredung ins Wochenende zu schieben.
Aber ein paar Minuten später, in den warmen Pullover gekuschelt, spürte ich auch die andere Seite dieser Erkenntnis. Wenn niemand mir sagt, dass es genug ist, heißt das auch: Ich darf es selbst bestimmen.
Ich darf mir erlauben, aufzuhören, bevor ich nicht mehr kann.
Ich darf Pausen setzen, ohne sie zu rechtfertigen.
Ich darf Grenzen ziehen, verschieben, neu festlegen. Und sie wieder verändern, wenn ich es brauche.
„Genug“ ist kein Ziel, sondern ein Gefühl, das wachsen darf. Ein Gefühl, das nur ich kennen kann, und das ich mir inzwischen wirklich anhöre. Mittlerweile mag ich diesen Gedanken sehr.
Seit ich das begriffen habe, taste ich mich anders an dieses „Genug“ heran. Nicht systematisch, nicht mit Regeln, eher wie jemand, der ein neues Instrument lernt und erst mal üben muss.
Doch ich habe begonnen, die Klaviatur meines Lebens anders zu spielen.
Weil ich gelernt habe, dass Pausen mir mehr bringen, als weiter durchzuziehen.
Weil ich mich daran erinnere, auf meinen Körper zu achten, der mir deutlich zeigt, wann es mal wieder zu viel ist.
Weil ich mich immer wieder frage, ob ich denn wirklich Lust auf etwas habe, oder ob das nur wieder etwas ist, was ich meine, aus Pflichterfüllung machen zu müssen.
Vor allem aber, weil ich gelernt habe, meiner inneren Antreiberin ein Stoppschild vor die Nase zu halten, wenn sie mich mal wieder mit ihrem „Aber Du musst doch …!“ quält. Deswegen ist es mir heute möglich, eher innezuhalten und in mich hinein zu hören, bevor ich weitermache oder noch etwas obendraufpacken will. Zumindest immer öfter.
Vielleicht geht es Dir ähnlich und Du hast auch hilfreiche Warnsignale. Vielleicht hörst Du sie schon – oder musst Du sie erst wieder freilegen, wie eine alte Spur, die lange verschüttet war. Vielleicht ist auch allein der Gedanke daran, dass Du „genug“ selbst festlegen darfst, schon eine Erleichterung.