Du musst nicht aussteigen, um auszusteigen

Träumst Du manchmal davon auszusteigen? Weil Dir alles zu viel ist? Zu kompliziert, zu anstrengend, zu was-auch-immer?

Alles hinter Dir zu lassen, nichts mehr zu müssen, keine Verpflichtungen mehr zu haben, vielleicht sogar ein komplett neues Leben zu beginnen?

Nicht zuletzt diverse “Aussteiger”-Dokus im TV (von denen ich noch keine einzige Folge gesehen habe) zeugen davon, dass so einige Menschen diesen Traum träumen: Aussteigen, ganz neu und von vorne beginnen, unbelastet von der Vergangenheit und dem, was einem bisher das Leben schwer gemacht hat. Am besten in einem anderen Land oder vielleicht sogar auf einer einsamen Paradies-Insel. Vielleicht irgendwo in Thailand, wohin es beispielsweise viele digitale Nomaden gezogen hat.

Mal abgesehen davon, dass es fraglich ist, ob das so ohne weiteres gelingt (vor allem der Punkt mit dem “unbelastet neu starten und alles hinter Dir lassen”), stellt sich mir die Frage: Ist es immer notwendig gleich komplett aussteigen? Oder kann man auch teilzeit-aussteigen, sozusagen aussteigen ohne auszusteigen?

Ich behaupte mal:

Du musst nicht aussteigen, um auszusteigen!

Schauen wir uns das ganze doch mal etwas näher an: Was steckt hinter dem Wunsch vom Aussteigen?

  • Beruflich etwas gänzlich anderes machen als bisher. Möglicherweise ohne Chef.
  • Ein neues Land, die Sprache, die Kultur und die Menschen kennenlernen.
  • alten Ballast in Form von schwierigen Beziehungen oder unliebsamen Erinnerungen zurücklassen.
  • Beruflich neu starten, unter anderen (wünschenswerterweise) besseren Konditionen.
  • Die Hoffnung, dass es woanders besser und einfacher geht, angenehmer und leichter ist.

Dies sind nur ein paar Gründe, die mir eingefallen sind oder was ich im Netz recherchiert habe. Meine Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Wenn ich mir die Liste so anschaue, sehe ich bis auf wenige Punkte vor allem Gründe, die sich meiner Meinung nach auch ohne das große “Ich-lass-jetzt-alles-hinter-mir”-Aussteiger-Szenario realisieren lassen.

Spielen wir das Ganze doch mal gedanklich durch – nur so zum Spaß und rein theoretisch.

Beruflich etwas gänzlich anderes machen, möglicherweise ohne Chef, d.h. selbstständig.

Das geht an so gut wie jedem Ort der Welt, erst recht mit einem digitalen Business.

Da ich meinen Blog auf Deutsch schreibe, habe ich beim Schreiben immer deutschsprachige Menschen im Sinn, die dementsprechend in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Nord-Italien, vielleicht auch Luxemburg oder Süd-Dänemark leben. Eben dort, wo M oder Frau in irgendeiner Form Deutsch spricht.

Eine berufliche Selbstständigkeit ist in allen diesen Ländern prinzipiell ohne größere Schwierigkeiten machbar. Noch praktischer, sie ist in vielen Formen auch nebenberuflich möglich. Vielleicht ist das für den Start sogar die bessere Variante?! Auch ich habe meine ersten Schritte in Sachen Selbstständigkeit neben meiner Anstellung getan. Das hat viele Vorteile, allen voran das verminderte finanzielle Risiko.

Um diesen Traum zu verwirklichen, musst Du also nicht komplett aussteigen und kannst dennoch – teilweise oder in Teilzeit – aussteigen.

Ein neues Land, die Sprache, die Kultur und die Menschen kennenlernen.

OK, zugegebenermaßen ist dies etwas schwieriger, wenn Du Deinen Lebensmittelpunkt nicht gänzlich ins Ausland verlegst. Aber unmöglich?

Im Zeitalter des Internets wohl kaum. Sprachkurse, kulturelle Veranstaltungen, TV-Dokumentationen etc., all das kannst Du auch digital von Deinem aktuellen Wohnort aus kennenlernen. Vielleicht gibt es darüber hinaus in Deiner näheren Umgebung lokale Gruppen, die aus dem Land kommen, in das Du gerne aussteigen willst und denen Du Dich anschließen kannst?

Das ist zwar nicht das Gleiche wie ein Aufenthalt oder das Leben in einem fremden Land, aber es ist immerhin etwas. Statt die Variante “Zelte abbrechen und woanders wieder aufbauen” tun es diese Varianten “für den Anfang” vielleicht auch?!

Alten Ballast in Form von schwierigen Beziehungen oder unliebsamen Erinnerungen zurücklassen.

Was diesen Punkt angeht, so ist hier große Vorsicht geboten. Zu glauben, ein Orts- oder auch Berufswechsel würde das schon erledigen, ist in den allermeisten Fällen ein Trugschluss! Wenn Du aus diesem Grund Dein Heil in der Flucht, sprich in einem anderen Land oder einem neuen Tätigkeitsfeld sucht, wirst Du vermutlich relativ schnell feststellen, dass das nicht funktioniert.

Ich weiß, dass sich viele Menschen an diese Hoffnung klammern. Und ja, zu einem gewissen Teil lässt Du sicher auch etwas hinter Dir, wenn Du aussteigst, sprich auswanderst oder den Job wechselst. Den größten und meist ungelösten Teil nimmst Du allerdings mit! Das lässt sich gar nicht vermeiden. Der muss bearbeitet und gelöst werden, damit er Dich nicht mehr in Form von Ballast beschwert.

Das geht allerdings viel besser (fast nur), wenn Du ins Leben einsteigst statt auszusteigen.

Beruflich neu starten, unter anderen (wünschenswerterweise) besseren Konditionen.

Eigene Erfahrungen kann ich zu diesem Punkt nicht beitragen. Sicher gibt es in anderen Ländern andere Regelungen und Gesetze, andere Gepflogenheiten und Bezahlungen. Beispielsweise hört und liest man immer wieder, dass die Arbeit in Skandinavien in recht flachen Hierarchien organisiert ist. Oder, dass das Thema “work-life-balance” zum Beispiel in Schweden einen erheblichen Einfluss auf die Arbeitsplatzgestaltung hat.

Ob damit aber alles gleich so viel besser bzw. völlig in Ordnung ist? Eins ist mal klar: Die Berge gibt es nicht ohne Täler. Daher ist es fraglich ob sich ein aussteigen aus diesen Gründen wirklich lohnt.

Da dieser Punkt sehr vielfältige Formen annehmen kann und es von Fall zu Fall genau hinzuschauen gilt, wie denn die beruflichen Konditionen wirklich sind, kann ich dazu leider nicht mehr schreiben.

Die Hoffnung, dass es woanders besser und einfacher geht, angenehmer und leichter ist.

Um mal das liebe Phrasen-Schweinchen zu bemühen: Die Hoffnung stirbt zuletzt! 😉

Ganz sicher solltest Du Dir von niemandem, erst recht nicht meinem Artikel, die Hoffnung nehmen lassen, dass sich vieles, wenn nicht alles zum Besseren wendet, wenn Du aussteigst. Das ist auf jeden Fall möglich. Ich möchte mit diesem Artikel lediglich ein bisschen zum denken anregen und Dich auf keinen Fall demotivieren.

Rein durch den schlichten Akt des Orts- bzw. Berufswechsels halte ich es jedoch für eher unwahrscheinlich. Ein bisschen innere Entwicklungsarbeit gehört schon dazu.

Aussteigen ohne auszusteigen

Falls Du jetzt auf den Geschmack gekommen bist und lieber erst mal aussteigen willst, ohne auszusteigen, hier mein Vorschlag mit der Situation umzugehen: Manchmal ist es völlig ausreichend bis hin zu absolut gewinnbringend, Dir immer mal wieder kleine Auszeiten zu gönnen.

Das schaffst Du mit etwas Mental-Training, indem Du Dir zuerst Folgendes klar machst: Es ist nicht immer alles gut, schön, angenehm, passend… Du darfst auch mal erschöpft, nicht so gut drauf oder auch völlig entnervt sein. Das ist ganz normal und gehört zum Leben einfach dazu. Deshalb läuft noch lange nichts verkehrt bei Dir.

Konntest Du diese Tatsache verinnerlichen ist folgende Übung, in der Du gedanklich auf eine einsame Insel reist (wenn Du das denn willst) sehr wirksam.

Wenn Du einen Tag lang nur das tun würdest, was Dir gut tut – wie sähe Dein Tag aus?

Ganz bestimmt fällt Dir so einiges ein, was Du immer schon mal erleben und machen wolltest. Doch bisher hast Du der Umsetzung gezögert und bereits viel zu lange auf die passende Gelegenheit gewartet.

Setz Dich hin und notiere Dir alles, was Dir zu der Frage: “Wenn Du einen Tag lang nur das tun würdest, was Dir gut tut – wie sähe Dein Tag aus?” einfällt – von kleinsten Kleinigkeiten bis hin zu großen Aktivitäten.

Danach suchst Du Dir die “Ich-Momente” heraus, die Du sofort umsetzen kannst. Starte mit winzigen Korrekturen im Alltag – das reicht oft schon, damit sich alles etwas einfacher, anders, besser anfühlt. Beispielsweise beginnst Du mit kurzen 7 Minuten am Tag.

Verabschiede Dich von dem Gedanken alles sofort zu 100% richtig hin zu bekommen, das wäre viel zu hoch gegriffen und würde nur in weiterem Frust enden. Du kommst viel unbeschwerter und leichter zum Ziel, wenn Du Dir kleine, gut machbare Einheiten vornimmst.

Entscheidend ist nicht, wie viel Du tust, sondern dass Du das für Dich persönlich Richtige tust!

Spüre das mal an diesem Beispiel nach: Solltest Du in den letzten Monaten an Gewicht zugenommen haben und das jetzt wieder abtrainieren willst, dann kannst Du folgende Variante wählen: Direkt zum Marathon anmelden, dafür ab jetzt täglich trainieren, nur noch fett- und kohlenhydrat-reduziert essen und auf Süßigkeiten und Alkohol komplett verzichten.

Wie fühlt sich das an, wenn Du das liest? Für die überwiegende Zahl an Menschen hört sich das sehr bedrohlich an und löst eher Verzweiflung als ein Wohlfühlgefühl aus. Das Vorhaben umzusetzen artet nach sehr kurzer Zeit in unmenschliche Willenskraft aus und ist daher nicht durchzuhalten.

Die bessere Variante: Kleine Korrekturen vornehmen, die sich leicht in Deinen Alltag integrieren lassen. Und zwar über einen längeren Zeitraum, nicht nur 21 Tage, wie so oft erzählt wird. (Lies dazu auch meinen Blogartikel: Warum der 21-Tage-Mythso totaler Quatsch ist.)

Probier` es doch mal mit 7 Minuten am Tag aus.

Nimm Dir nur wirklich kleine Einheiten vor, die problemlos unterzubringen sind. Du könntest beispielsweise zwei Deiner Lieblings-Lieder auswählen, die Musik laut stellen und mitsingen, als gäbe es (kein Morgen) keine Nachbarn… 😉

Oder aufstehen und 7 Minuten in den Himmel schauen, wenn Du magst kannst Du Dich dabei auch sanft bewegen wie ein Grashalm im leichten Wind.

Vielleicht magst Du Dich auch einfach mal 7 Minuten lang auf den Rücken legen und tief ein und ausatmen?

Falls diese Vorschläge für Dich völlig absurd und abwegig klingen, genieße doch einfach mal 7 Minuten den Anblick dieses Bildes (falls Du eine Hängematte hast, mach es Dir darin gemütlich und hol Dir das Bild vor Dein inneres Auge während Du Dich angenehm hin und her schaukelst).

Vielleicht fühlst Du Dich dadurch ein bisschen wie auf einer einsamen Insel und kommst nach diesem kleinen Ausstieg erholter zurück?!

Wer weiß, wozu das gut sein könnte?! 🙂
Deine Dagmar Ruth